Nach einer etwas intensiveren, nahezu stressigen Zeit, in der eher der Überlebens- als der Lebensmodus auf der Tagesordnung stand, habe ich endlich wieder etwas Luft, meinen Gedanken freien Lauf zu lassen. Um wirklich geistig-schöpferisch tätig zu sein, brauche ich Entspannung, Ruhe und oftmals einen entscheidenden Impuls, der zu meinem aktuellen Thema passt. Dieser Impuls kam während meines Urlaubs. Diesen habe ich genutzt, um endlich einmal wieder etwas Heimatluft zu schnuppern. Verbringt man ein paar Tage mit der Familie, kommt man nicht umhin, mit den zahllosen Geschichten der Schicksalsschläge im Bekannten- und erweiterten Familienkreis auf den neuesten Stand gebracht zu werden. Mein erster Impuls war diesmal: „Ich hab‘ Urlaub und möchte davon nichts wissen. Ich möchte mich erholen.“
Der Zweite kam etwas zeitversetzt, nachdem ich einen interessanten Artikel las – ich bin eine große Verfechterin der Überzeugung, dass man für den Verlauf seines Lebens selbst verantwortlich ist. Das Wort „Schicksal“ gab es für mich nicht. Aber dieser Artikel klärte meinen Blick. Denn unser Dasein auf der Erde ist bestimmt durch die Entscheidung anderer. Wir werden in eine Zeit, in ein soziales Umfeld geboren, mit einer Grundausstattung an Persönlichkeitsmerkmalen und Charaktereigenschaften, die wir nicht beeinflussen können. Wir können sie maximal bearbeiten und formen wie einen Rohdiamanten. Das zieht sich weiter durch unser Leben, denn welche Schulfächer wir mögen, hängt oft vom jeweiligen Lehrer ab. Welche Ausbildung oder welches Studium wir wählen, wird beeinflusst durch die Eltern, die finanziellen Möglichkeiten oder den Horizont des sozialen Umfelds. Das einzige, was wir tun können, ist mit dem eigenen Köpfchen Entscheidungen im Rahmen dieses Schicksals zu treffen, um dieses innerhalb der Grenzen (Grenzüberschreitungen erlaubt) zu gestalten. Und wir können auf unsere Gesundheit achten und unser Bestes geben, aber ob wir letztendlich doch einer Krankheit unterliegen, bestimmen am Ende zum Großteil die Gene.
Die Halbwertszeit des Hier und Jetzt. Ein Phänomen, das mich immer wieder überrascht, zeigt sich im Gedankenspiel des Arbeitsleben-Renten-Kontinuums. Viele Menschen zwingen sich über ihr Arbeitsleben hinweg, ja nur gewissenhaft Aufgaben zu erledigen. Jeden Tag rennen sie zur Arbeit, um abends gestresst auf die Couch zu fallen. Für die schönen Dinge im Leben fehlt dann meist die Energie, total erschlagen vom Alltag. Mich beschleicht immer wieder der Eindruck, dass sich zahllose Erdenbürger aus einer Mischung aus falschem Pflichtgefühl und Angst vor Veränderung selbst unentbehrlich machen. Sie denken, sie seien unersetzbar. Wenn sie ihre Arbeit nicht machen, macht es keiner. Oder nicht so gut wie sie selbst. Die Konsequenz ist meist, dass diese Menschen sich in eine Position manövriert haben, in der sie Verantwortung tragen. In diesem Moment haben sie schon längt den Zeitpunkt verpennt, jemanden frühzeitig mit einzubeziehen, sodass die Entbehrlichkeit ein gefühltes Ding der Unmöglichkeit wird. Versteht mich nicht falsch, diese Menschen machen oft wunderbare Arbeit und SIND auch oft unentbehrlich. Aber muss das immer so sein, dass man sich seinem Arbeitgeber, seinen Kunden, seinen Mitarbeitern, seinen Kollegen gegenüber so verpflichtet fühlt, dass man verpasst, sich um sich selbst zu kümmern und sein Leben zu leben? Denn eines ist klar; when the light goes out, the only one regretting not having done things, will be you.
Im Trott des Alltags scheinen die Dinge, die täglich auf den Tisch kommen, unendlich wichtig. Derjenige, der am lautesten schreit, bekommt die Aufmerksamkeit. Vereint man zu viele Rollen in sich oder reagiert einfach sensibel auf Brüllaffen, gerät man schnell in den Dienermodus und schaltet auf Automatismus. Einfach kopflos und meist mit der Konsequenz, dass weder Zeit für die Mittagspause noch eine solide Vorbereitung auf den nächsten Termin bleibt. Abends kehrt man nach Hause zurück, fühlt sich erschöpft und mit dieser bleiernen Leere Im Magen, die die Sinnlosigkeit des Tages erahnen lässt. Es beginnt schleichend; mit schlechter Laune, Abgeschlagenheit, Unlust auf Unternehmungen, der Griff zum Bier oder den Chips, Zwicken und Zwacken im Körper, Schlafprobleme. Du befindest dich bereits im Teufelskreis. Unaufhaltsam und im freien Fall.
Und dann passiert es. Ein nahestehender Mensch ist vom einen auf den anderen Moment nicht mehr da. Oder kurz nach dem Eintritt in die Rente kommt die grauenhafte Diagnose einer unheilbaren Krankheit; „Wir können leider nichts mehr für Sie tun, mit Glück haben Sie noch ein Jahr“. Über 40 Jahre hat man sich jeden Tag abgerackert und wollte doch dann endlich den Ruhestand genießen. Und dann das. Who cares if one more light goes out, in the sky of a million stars. Well, I do. Chester Bennet, der selbst sein Leben vor einigen Jahren beendete, singt über dieses traurige und tief philosophische Phänomen. Who cares when someone’s time runs out, if a moment is all we are.
Für mich geht es um die Sinnhaftigkeit unseres Lebens und unseres Tuns. Mit diesem Tun sind wir zwar nach wie vor nur ein Stern unter Abermillionen von Sternen, der in der Betrachtungsweise der Zeitdilation innerhalb eines Moments wieder verschwindet. Die Frage dabei ist jedoch, möchte man wie ein kleiner Stern unter allen anderen untergehen und einfach verschwinden, oder möchte man wie eine Sternschnuppe am Himmel verglühen? Auch eine Sternschnuppe ist nur einen Bruchteil einer Sekunde am Firmament zu sehen und doch hinterlässt sie bei den Menschen, die sie in dem Moment sehen, einen Eindruck. Sie können sich etwas wünschen und freuen sich, so etwas Besonderes in ihrem Leben gehabt zu haben.
Das Scheiden eines Menschen, dem wir nicht nahestehen oder der für uns keine gesellschaftliche, soziale, künstlerische oder politische Wirksamkeit besitzt, dessen Licht ausgeht, tangiert uns nicht. Aber auch diese Person hat Menschen, die ihr nahegestanden haben und für die das Erlöschen des Lichts ein tieftrauriger Lebenseinschnitt ist.
Vor wenigen Tagen verstarb – nach beeindruckenden 94 Lebensjahren - die Oma eines sehr guten Freundes. Ich kannte die Dame nicht, aber ich wusste, welche Bedeutung sie in seinem Leben gehabt hatte. Sie hatte ihn über 35 Jahre geprägt; durch ihre Erziehung, ihre Liebe, ihre Lebensenergie. Für ihn war sie – von außen betrachtet – der wichtigste Mensch in seinem Leben. Für ihn ist sie wie eine Sternschnuppe am Himmel verglüht. Mich hat die Tatsache sehr mitgenommen. Erst unbewusst „It flickers, flickers“ und dann mit voller Wucht.
Das mache ich jetzt anders. Oft habe ich mich selbst in dem über-gewissenhaften Mädchen verloren, dass nicht entbehrlich sein wollte, um niemanden zu enttäuschen. Im Laufe der Jahre lege ich das immer mehr ab und male mir dabei aus, was als allerschlimmstes eintreffen könnte. Und was ich hingegen gewinnen könnte. Dabei hilft es, sich solche Ereignisse bewusst zu machen und zu realisieren, dass unser Leben nur einen Moment lang ist. Weder dein Chef noch deine Kunden werden dir allzu lange hinterhertrauern, wenn dein Licht unerwarteterweise zu früh erlöschen sollte. Oder du krank wirst. Wer traurig sein wird, sind deine Freunde und deine Familie. Die Personen, denen du nahestehst und die dir nahestehen. Und mit denen du meistens zu wenig Zeit verbringst, da du entweder arbeitest oder zu müde von der Arbeit bist.
Nimm dir einen Moment Zeit und frage dich; auf einer Skala von 1-10, wie zufrieden bist Du mit der Menge an Zeit, die Du für Freunde und Familie aufwendest, mit dem Bewusstsein, dass jeder dieser Menschen morgen nicht mehr da sein könnte? Dabei steht 1 für total unzufrieden und 10 für absolut zufrieden. Wenn du mit dem Ergebnis unzufrieden bist, überlege dir, bei welcher Person du anfangen könntest, um das zu ändern. Nimm dir erst einmal nur eine Person vor und intensiviere den Kontakt. Stell dir vor, wie du auf die Beziehung blicken möchtest, wenn dein Leben zu Ende geht. Du kannst dies zum Beispiel auch in Form eines Briefes tun, den Du aus der Zukunft rückblickend auf Euer gemeinsames Leben schreibst. Dies wird dir verdeutlichen, was dir wichtig ist und entsprechend kannst Du handeln.
Schön, dass es Dich gibt und dass Du noch immer leuchtest.
Deine Merle
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